Seit dem 13. Juni 2025

Blog 2025-06-18

18. Juni 2025

Bei den meisten von uns Iraner*innen im Exil, die fern der Heimat und unserer Liebsten irgendwo auf dieser Welt leben, herrscht ein erdrückendes Gefühl der Scham, Ohnmacht und Verzweiflung.
Du bist nicht da, um jemandem die Hand zu halten, einen geliebten Menschen in den Arm zu schließen. Du bist nicht präsent und musst aus der Ferne, unter Tränen zusehen, wie Leid und Zerstörung über die Menschen kommen. Immer wieder fragst du dich fassungslos: Wohin mit all dieser Wut, all diesem Schmerz? Bewirken sie überhaupt ein Echo in dieser Welt? Lässt sich daraus etwas erschaffen, das Sinn ergibt?

Verflucht sei dieser verheerende Krieg. Verflucht die gewaltige Invasionsarmee Israels und ihrer Komplizen. Verflucht jene Islamische Republik, die Iran und seine schutzlosen Mitmenschen in dieses blutige Desaster geführt hat. Verflucht seien die hohlen, schamlosen Narrative, die das Grauen des Krieges und seine blutige Spur auf den Körpern Wehrloser zu verschleiern versuchen. Welche bitteren und dunklen Tage wir doch erleben.  Wie viele kostbare Leben wurden und werden zerrissen und ausgelöscht. wie viele Häuser zerstört, wie viele Existenzen vernichtet?Wir scrollen nicht einfach durch unsere Timelines – wir verschlingen sie, mit flackernden Blicken, fieberhaft auf der Suche nach Lebenszeichen. Und währenddessen versuchen wir über jede noch offene Leitung, unsere Angehörigen und Freund*innen zu erreichen: Geht’s dir gut, mein Liebster? Fragen, die wir voller Angst in Richtung Heimat senden. Wir warten zitternd auf ein Zeichen, eine Nachricht, ein Lebenszeichen.
Jemand schrieb in den sozialen Medien: „Ihr da draußen mit euren nervigen Nachfragen, ihr macht es uns nur noch schwerer.“  Er schreibt nicht, was wir sonst tun könnten. So stellen wir uns wieder und wieder dieselbe Frage: Was können wir tun?

Ich hatte für den kommenden Samstag ein Ticket nach Teheran, um endlich die lang aufgeschobenen Reparaturen im Haus meiner Eltern vorzunehmen. Jenes Haus, das zu ihrem Todesort wurde, dort, wo sie von den Schergen des Geheimdienstes der Islamischen Republik brutal ermordet wurden.
Aber der Luftraum über Iran ist nun für Zivilisten geschlossen. Das “Rad des Lebens”, wie es im Persischen heißt, ist in den Abgrund des Krieges gestürzt.

Ich suche unermüdlich nach einem “Wir”. Wir alle suchen nach unserer Stimme, die unter Schock, Wut und Verzweiflung ins Stocken geraten ist.
Für mich bedeutet jeder Ruf des Protests gegen diese Katastrophe eine Möglichkeit, uns zu sammeln, uns zu erinnern, uns zu behaupten – und inmitten dieses Alarmzustands, unsere Handlungsfähigkeit zu bewahren, eine Handlungsfähigkeit, die wir uns zu einem hohen Preis mühsam erkämpft haben.

Wie ein Mantra murmele ich den Namen Irans, den seiner geliebten Städte und Straßen voller Erinnerungen vor mich hin. Ich sage mir: Du wirst zur Hedayat-Straße gehen, zu dem Haus deiner Eltern, wie gewohnt in jedem Jahr, in der Hoffnung dort all jene Mitstreiter*innen zu sehen, deren Widerstand einst dieses Hauses so lebendig werden ließ. Du wirst dieses Haus pflegen und du wirst, bis es so weit ist, was immer in deiner Macht steht in Bewegung setzen um gegen diesen Krieg und seine Verursacher, wer immer sie auch seien, Widerstand zu leisten. Verflucht und verdammt sei der Krieg!

Als jemand, die ihre Aktivitäten seit Jahren unter das Zeichen der Wahrheit und Gerechtigkeit gestellt hat, fühle ich mich verpflichtet, meine tiefe Bestürzung darüber auszudrücken, dass heute das Wort Gerechtigkeit (دادخواهی) mit Bomben, Raketen und Drohnen gleichgesetzt wird.

Ich finde, dass Freude oder Genugtuung über den Tod von Funktionären, die an staatlichen Verbrechen beteiligt waren – so verständlich sie auf individueller Ebene erscheinen mag, nichts mit dem eigentlichen Anliegen politischer und menschenrechtlicher Gerechtigkeit zu tun hat.
Wahrheits- und Gerechtigkeitssuche ist ein ethischer und politischer Versuch, die herrschende Macht zur Verantwortung zu ziehen, um den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen und die Gesellschaft gegen Repression zu stärken.
Sie ist Teil des Kampfes der iranischen Zivilgesellschaft, um Würde und Freiheit zurückzugewinnen – nicht, um sich mit Bomben und Raketen gemein zu machen, die Städte und Häuser in Schutt und Asche legen.

Am 17. Juni 2025 sprach der deutsche Bundeskanzler den Satz:
„Israel erledigt die Drecksarbeit für uns alle.“
Mit einem einzigen Satz adelte er die Gewalt zur moralischen Pflicht, Krieg zur pragmatischen Notwendigkeit – und schwieg zugleich über das, was wirklich brennt und lodert: Häuser, Fabriken, Krankenstationen, Menschen.
Selbst wenn er die Ausschaltung der Schergen eines Regimes meinte, verklärt er kaltschnäuzig die Zerstörung eines Landes, das nun dabei ist, in Staub und Schmerz zu versinken.
In seinem nüchternen Kalkül verwandeln sich mein Land und meine Landsleute zur stummen Kulisse, zu namenlosen Statisten. Sie werden im Schatten dieser “Drecksarbeit” verbrannt, verschwiegen und in das Dunkel des Vergessens gestoßen.

Elahe Mohammadi – die mutige Stimme, die mit ihrer legendären Reportage über die Ermordung von Mahsa Jina Amini weltweite Bekanntheit erlangte und dafür in den Kerkern der Islamischen Republik verschwand – hat heute einen Bericht veröffentlicht, der einen kleinen Ausschnitt dieses Schreckens sichtbar macht.
Diesen Bericht füge ich hier bei.

Einen Tag nach dem aufwühlenden Nachmittag des 25. Khordad (14. Juni) in Teheran:
Die Trümmer der israelischen Angriffe auf die Stadt sind noch nicht ganz beseitigt worden – Wohnhäuser und eingestürzte Gebäude im Boulevard Keshavarz, Apadana, am Ghods-Platz, Sohrevardi, Eshqiyar, Shariati und Ghodousi. Noch immer liegen Leichen unter den Trümmern aus Beton, Stein, Erde und Stahlträgern.
Gegen 15 Uhr am 14. Juni schlugen zwei Geschosse auf dem Ghods-Platz ein: eines traf das Büro für Moscheeangelegenheiten oberhalb der Filiale der Bank Shahr, das andere die Autos, Passanten und Fußgänger, die an der roten Ampel standen und die Straße passieren wollten. Ganz normale Zivilist:innen – wie der 16-jährige Matin Safaeyan oder der 42-jährige Grafikdesigner Saleh Bayrami – verloren ihr Leben. Von manchen Autos blieb nur verbogenes Blech übrig.
Die genaue Zahl der Toten steht noch nicht fest, aber bis zum dritten Tag der Angriffe auf den Iran wurden laut offiziellen Angaben 224 Menschen getötet. Hossein Kermanpour, Sprecher des iranischen Gesundheitsministeriums, gab am Sonntag bekannt, dass 65 Stunden nach Beginn der Angriffe 1.481 Menschen getötet oder verletzt wurden – 1.277 von ihnen wurden in Universitätskliniken behandelt, über 90 Prozent waren Zivilist:innen. 522 wurden entlassen, 224 – Männer, Frauen und Kinder – sind gestorben.

Die Stadt ist lahmgelegt.
Tankstellen bilden kilometerlange Warteschlangen, wie auf der Strecke vom Beginn der Tajrish-Straße bis zur Tankstelle nahe dem Ferdows-Garten. Auf dem Ghods-Platz, dort, wo die Bahonar-Straße beginnt, klafft ein tiefer, mehrere Meter breiter Krater – gegenüber der Stadtverwaltung ein zerstörtes Gebäude. Feuerwehr, Wasserwerke und Polizei haben das Gelände mit gelben Bändern abgesperrt. Der Verkehr ist eingeschränkt, Rettungsarbeiten dauern an.
Mitarbeiter der Wasserwerke stehen ein paar Meter weiter im Krater und reparieren zerstörte Leitungen. Einige von ihnen sagen, das Wasser könnte bis zum Abend wieder fließen. Aber der Wasserausfall hat bereits die Stadtbezirke 1, 2 und 3 erreicht – von hier bis Velenjak und zur Khaghani-Straße sei das Wasser abgestellt. 20 Tanklaster sind unterwegs – doch es dauert, bis sie befüllt und verteilt werden können. Fünf Hauptleitungen sind geborsten. Ein junges Paar steht am Platz: Die Frau arbeitet in einem Restaurant in Fereshteh, das nun wegen Wassermangel geschlossen wurde. Der Mann vermutet, der Angriff kam nicht von außen: „Es sah aus, als wäre die Explosion von innen – wie in Shahran.“

Ein zerstörtes Gebäude beim Rathaus des Bezirks 1, in dem sich das Büro für Moscheeangelegenheiten über der Bank Shahr befand, ist noch nicht abgetragen. Möglicherweise liegen darin noch Leichen. Die Druckwelle beschädigte auch umliegende Gebäude: das Parkhaus des Rathauses, eine Apotheke, ein Blumenladen. Passant:innen bleiben stehen, schauen sich um, diskutieren – viele glauben, beide Raketen hatten dasselbe Ziel im Visier.
Ein Mann in schwarzer Kleidung schaut auf die Trümmer. Er trauert um drei Kolleg:innen, die bei der Explosion des gegenüberliegenden Gebäudes durch zerborstenes Glas starben: „Unser Büro ist dem Erdboden gleichgemacht worden. Ich war im Hinterhof, die Druckwelle war stark. Das Splitterstück bohrte sich wie eine Schraube durch alles. Wir standen auf dem Balkon, sahen sogar die Drohne. Unser Chef, seine Tochter und der IT-Leiter starben.“ Er deutet mit den Händen die Größe der Drohne an: etwa die Breite zweier Gehsteigplatten. Ladenbesitzer fragen einander nach überlebenden Freunden.
Ein älterer Mann, der auf das zerstörte Gebäude blickt, fragt: „Und wenn noch jemand unter den Trümmern liegt? Das zweite Stockwerk ist noch nicht geräumt.“ Er erinnert sich an ein schwer beschädigtes Auto, das seit dem Vortag unangetastet dort steht – vielleicht saß noch jemand in dem Fahrzeug? „Was befand sich in diesem Büro oder in der Bank, das dieses Gebäude zur Zielscheibe des Angriffs machte?“
Ein Apotheker erzählt: „Nach der Explosion lagen alle Regale am Boden. Als ich die Augen öffnete, waren zwei Kunden verletzt, Ziegelsteine auf ihren Gesichtern. Splitter drangen sogar in den Keller, in dem sich ein Kräuterladen befindet. Wenn ich daran denke, zittert mein ganzer Körper. Alle Autos in der Nähe waren wie Papierblätter zerknäult.“
Eine andere Frau, Ladenbesitzerin in der Passage Ghaem, schloss gerade ihren Laden, als sie die Explosion hörte. Sie sah die Toten, die zerquetschten Fahrzeuge. „Gestern haben sie allein aus der Mitte des Platzes 50 Leichen geborgen. Die Autos waren vollständig zerstört. Es war grauenhaft.“ Schon gestern beschloss sie, die Stadt zu verlassen. Um 15 Uhr fuhr sie von Tajrish nach Pardis – und kam erst um 3 Uhr morgens an.

Nazanin, die am Vali-Asr-Platz wohnt, war Zeugin der Angriffe dort: Ein Wohnhaus im Boulevard Keshavarz, ein Auto in der Zartosht-Straße, das Außenministerium. „Gestern war es schlimm. Bis zu diesem Zeitpunkt hörten wir nur nachts die Drohnen. Aber am Sonntag vor 16 Uhr gab es mehrere Explosionen. Hinter dem Hotel Espinas wurde ein Wohnhaus getroffen. Die Hotelgäste flüchteten in Panik aus dem Gebäude heraus.“
Sie erzählt, wie ein Mann trotz aller Bemühungen seine Frau unter den Trümmern nicht retten konnte. In ihrer Nähe standen eine Großmutter und ihre Enkel:innen, deren Eltern verschüttet worden waren. „Eine Frau kam verletzt und verstört heraus, ein anderer Mann wurde in einem Schockzustand geborgen – er stieß seine Tochter weg, sagte, er habe den Tod gesehen, flehte, man solle nicht mit ihm sprechen.“ In der Zartosht-Straße explodierte ein Auto – ob es ein Selbstmordanschlag war, bleibt unklar. Auch das Innenministerium am Fatemi-Platz wurde getroffen.

Die Toten der Shariati-Straße:
Saeid, Fatemeh und Hadiseh Mousavi – das Paar 65 und die Tochter 37 Jahre alt – starben bei einem Raketenangriff auf der Mohebbi-Straße nahe der Shariati-Straße. Ihre Leichen wurden noch nicht gefunden. Ihr Sohn Mohammad (31) verließ am Morgen des 14. Juni wie gewohnt das Haus – am Abend war nichts mehr wie zuvor: kein Zuhause mein, keine Eltern, keine Schwester.
Mohammad eilte nach den ersten Meldungen zum Ort des Geschehens – das Haus war verschwunden, ein Berg Schutt ersetzte es. Drei Raketen hatten vier Wohnhäuser vollständig zerstört. Mohammad und seine Tante Bita durchsuchten die Leichenhallen – ohne Erfolg.
Bita Mousavi, erfahrene Kulturjournalistin, verlor Bruder, Schwägerin und Nichte. Sie berichtet, dass Gerichtsmediziner sie regelmäßig baten, die Mutter für DNA-Proben vorbeizubringen, da viele Leichen nicht mehr zu identifizieren seien. Mohammad erkannte schließlich seine Schwester Hadiseh an ihren Haaren auf dem blutüberströmten Gesicht, als sie gerade auf einer Bahre abtransportiert wurde. Der Vater war Rentner, die Tochter Angestellte bei einem Privatunternehmen gewesen.

Ein Baum rettet Mehri:
In der Nacht des Angriffs auf den Gebäudekomplex namens Orchidee in Shahrara – Mehri und Majid waren anlässlich ihres Hochzeitstags gerade im Schlafzimmer – explodierte eine Rakete. Das Paar wurde aus dem Fenster geschleudert. Ein Baum fing die schwangere Mehri und ihr ungeborenes Kind mit den Ästen auf. Majid lag dagegen leblos zu Füßen des Baums.
Mehri sah ihn bewegungslos, glaubte aber nicht an seinen Tod. Rettungskräfte kamen erst Stunden später. Majid Javaheri, 1979 geboren, war Bauingenieur, arbeitete am Institut für Geisteswissenschaften und betrieb nebenbei eine Schreinerei. Er hatte seine Mutter in der Corona-Zeit verloren, wollte gerade kündigen und sich selbstständig machen.
Seine Nichte Delaram erzählt: „Er liebte das Handwerk, nicht das Kämpfen. Er war unser Halt, naturverbunden, lebensbejahend.“ Er und Mehri erwarben vor zwei Jahren ihre Wohnung, renovierten sie selbst. Am ersten Tag der Angriffe starb dort ein Nuklearwissenschaftler – vielleicht war er das Ziel. Mehri überlebte schwer verletzt. Am Tag darauf identifizierten Verwandte Majids Leichnam in der Gerichtsmedizin.

Delaram berichtet von einem Schmerz, der sie digital trifft und sich im Realen manifestiert: „Die Kommentare in den sozialen Netzwerken, die zivile Opfer als ‚unnormal‘ oder ‚verdächtig‘ hinstellen, sind für unsere Familie unerträglich. Mein Onkel war einfach ein Mensch. Dieses Gebäude war voll von hier lebenden Familien, die nicht mehr leben. Die Welt muss wissen: Dieser Krieg trifft nicht nur militärische Ziele, sondern vernichtet Leben – ganz normale, wehrlose Menschen.“

Dieses Zuhause gibt es nicht mehr:
Ahmadreza Zolfaghari, 60, Professor für Kernphysik an der Shahid-Beheshti-Universität, lebte im Patrice-Lumumba-Komplex – direktes Ziel des ersten Angriffs. In jener Nacht starben er, seine Frau Parvaneh und ihr 33-jähriger Sohn Mohammad.
Sein Neffe Peyman Akbarnia berichtet: „Wir wohnten im Stockwerk darunter, waren zum Glück verreist. Am Morgen sah ich Videos in den sozialen Medien – unser Haus war zerstört. Niemand aus dem Gebäude hat überlebt. Auch unsere Wohnung ist verloren.“
Über seinen Onkel sagt er: „Er war ruhig und hilfsbereit, nur an der Universität lehrend tätig.“ Parvanehs Leiche wurde gleich geborgen, die Leichen von Ahmadreza und Mohammad erst zwei Tage später. Beerdigungen stehen noch aus.
Mohammad, Absolvent der Universität Sharif, war Programmierer, weltoffen, naturverbunden, belesen. „Er liebte den Iran, war aber dem Regime gegenüber kritisch eingestellt, hoffte auf Reformen und Erleuchtung für das Land.“
Zum Schluss sagt Peyman:
„In diesen Tagen von Krieg und Trauer bleibt nur eine Hoffnung: dass der Iran Iran bleibt.“