Nicht müde werden; Eine Reisebericht

Blog 2023-12-29

„Kann sein, dass hier dein Zuhause ist aber jetzt wo wir hier sind, ist es unser Arbeitsplatz.“
Das war die kaltschnäuzige Rechtfertigung eines der Sicherheitsagenten im November dieses Jahres, der bei der Hausdurchsuchung und Festnahme eines Journalistenpaares, die Frau aufgefordert hatte, ihr Kopftuch anzulegen. Sie hatte sich widersetzt und gemeint, dass sie in ihrem eigenen Haus das Recht habe, selber über ihre Kleidung zu bestimmen. Eine Aussage, die die Gerissenheit eines Machtapparates offenlegt, der seine Exekutoren ermächtigt, in alle Bereiche des Lebens der Bürger einzudringen, sie zu bevormunden und zu kontrollieren. .
Als ich diesen Satz hörte, musste ich an die Worte einer befreundeten Dichterin denken, die den Widerstand der Frauen gegen die alltäglichen Übergriffe der Handlanger als „Jang-e tan be tan“ – als sinngemäß einen Nahkampf bezeichnete.


Ich hörte den oben zitierten Satz aus dem Munde meines Freundes Reza Khandan, als er mich zusammen mit seiner Frau Nasrin Sotoudeh, der bekannten Menschenrechtaktivistin, nach meiner Ankunft in Teheran, besuchte.
Nasrin war gerade aus einer mehrtägigen Haft entlassen worden. Verhaftet wurde sie zusammen mit einer Gruppe von Aktivistinnen bei der Trauerversammlung für die junge Schülerin, Armita, die ihren Verletzungen erlegen war. Sie war vier Wochen zuvor vom Personal der Sittenpatrouille in der Teheraner Metro zusammengeschlagen worden, weil sie kein Kopftuch getragen hatte. Nasrin erzählte von der Unnachgiebigkeit der festgenommenen Frauen, trotz der Gewalttätigkeit der Polizei. Sie berichtete, dass bei der Festnahme die Aktivistinnen stundenlang im Transporter auf dem Hof der Staatsanwaltschaft festgehalten worden waren, weil sie sich dem Schleierzwang widersetzt hatten, denn ohne Kopftuch durften sie nicht das Gebäude betreten. Schließlich hatte der zuständige Beamte den offiziellen Haftbefehl im Auto verkünden müssen. Anschließend wurden die Frauen zum Gefängnis transportiert, weiterhin ohne Kopfbedeckung. Die Nahkampfsituation ist auch in diesem Bericht ersichtlich.

Wenn ich in Teheran bin, öffne ich jeden Donnerstagnachmittag das Haus meiner Eltern für Besucher. Sie kommen zahlreich und beleben das Haus der Verstorbenen mit ihrer Gegenwart.
An diesem Nachmittag wurde über die Unfähigkeit der *Opposition gesprochen, eine Einigung zu erzielen, über die historische Verantwortung, die „Frau-Leben-Freiheit“- Bewegung, die zum Stillstand gekommen war, voranzutreiben, auch über die spalterische Rolle der Monarchisten, deren zentrale Aktivität scheinbar darin besteht, andere Oppositionelle zu diffamieren und mit ihren rechtspopulistischen Thesen die Geschichte der „Schah Zeit“ offen zu verfälschen. Es wurde von den perfiden Methoden des Regimes gegenüber Andersdenkenden, von permanenten Drohanrufen und regelmäßigen Vorladungen, von der Ausübung des Drucks auf ihre Angehörigen und sogar Arbeitsgeber, von der Verbreitung diffamierender Gerüchte und von Versuchen berichtet, die politischen Aktivisten in faule Deals zu verwickeln. Erregt wurde auch über die Wirtschaftliche Notlage gesprochen, die sich rasant verschärft und immer mehr Menschen in die Armut treibt. „Mit dem aktuellen Preis eines Kilo Gurken könnte man eine Busfahrt in die Türkei finanzieren“ sagte eine meiner Freunde.
Wut und Ratlosigkeit beherrschen die Atmosphäre dieser Gespräche aber es loderte auch der trotzige Wille zum Widerstand und zum aufrechten Leben als die einzige Möglichkeit auf, die politische Krise zu bestehen. Die Verleihung des Nobelpreises an Narges Mohammadi kam für uns Freunde in dieser Runde zur rechten Zeit und zwar als Ermutigung und als erfreuliches Signal für entschlossenen Widerstand. Eine der Besucher hatte an meinen Vater erinnernd, Rosinengebäck mitgebracht. Denn mein Vater servierte sie seinen Gästen in eben diesem Wohnzimmer, wenn sie politische Gespräche führten.
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Die Nacht zuvor war ich in Teheran angekommen. Bevor ich die Passkontrolle erreichte kam es in den langen Korridoren, die die Reisenden gehetzt zurücklegen, zu einer Begegnung mit einer Flughafenmitarbeiterin. Sie rief meinen Namen und begrüßte mich herzlich, wünschte mir einen guten Aufenthalt und fügte hinzu: “Es lebe die Erinnerung an Deine Eltern!“
Bei der Passkontrolle wartete ein Beamter auf mich. Er nannte meinen Namen, um sich meiner Person zu vergewissern, nahm meinen Pass und begleitete mich zu meinem Gepäck. Dann führte er mich in einen mir gut bekannten Raum. Dort warteten zwei kräftig gebaute Männer in Zivil. Sie sagten, sie hätten die Anweisung, mein Gepäck zu durchsuchen. Sodann fielen sie darüber her. Sie überprüften jedes Kleidungsstück, jedes Geschenk, jeden Gegenstand so akribisch, dass sogar ich, der so etwas schon gewohnt war, staunte.
Meinen Einwänden begegneten sie mit der banalen Ausrede, dass sie nur Befehle ausführten. Sie behaupteten, weder mich noch den Grund der Inspektion zu kennen.

Die Aktion wurde derart in die Länge gezogen, dass ich verärgert nach dem Sinn solcher Schikanen fragte. Einer von ihnen antwortete darauf im selbstgerechten Ton: “An den Flughäfen des Westens werden mit unseren Jungs noch viel schlimmere Dinge gemacht“.
Mit „unsere Jungs“ meinte er sicher die Agenten des Regimes bei ihren Auslandseinsätzen.
„Was ist das für ein absurder Vergleich?“ „Soll denn ich, wenn ich zum Todestag meiner Eltern in mein eigenes Land reise, für die Kontrollprozeduren geradestehen, die die Agenten des Regimes im Ausland durchlaufen?“ Fragte ich.

Schließlich kopierten sie alle meine Karten, die sich in meinem Portemonnaie befanden, konfiszierten meine zwei Mobiltelefone und meinen Reisepass und überreichten mir eine Vorladung zum Verhör in vier Tagen. Als ich endlich in die Ankunftshalle ankam, warteten meine Tanten auf mich, beherrscht und zugleich herzlich, wie immer.
Die folgenden Tage verbrachte ich in einer Atmosphäre der Unsicherheit, weil die Kommunikation zwischen mir und meinen Angehörigen und Freunden im In- und Ausland unterbrochen war. Dieses Mal aber wurde mir nicht die Frage gestellt, die ich im Laufe die letzten Jahrzehnte immer wieder gehört hatte: Warum in aller Welt kommst du nach Iran und lieferst dich (und dein Umfeld) diesen „Schurken“ aus?
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Die Tage vor dem Jahrestag verbrachte ich damit, Freunde und Bekannte zu treffen und durch die Stadt zu spazieren. Oft fragte ich mich, warum denn der Alltag unter der Last einer so umfassenden Krise und dem enormen Druck des wirtschaftlichen Niedergangs nicht längst zusammengebrochen ist. Ich hörte wiederholt den Satz, “Unmöglich, dass es so weitergeht!” Die Reaktionen auf die Lage waren zwar unterschiedlich aber in ihrer Wut auf das Regime, die das gegenwärtige Desaster zu verantworten hatte, waren sich alle einig.

Die Bandbreite der Reaktionen gegen die verschärfte Hijab-Kontrolle ging beispielsweise vom Entschluss einer Frau, die alle ihre Kopftücher verbrannte, um die Möglichkeit der Rückkehr zu den Tagen vor dem Aufstand auszuschließen, bis hin zum Nachgeben einer anderen, die sagte, dass sie zwischen der Hijab-Strafe und dem Geld für den Unterhalt ihres Kindes nicht wählen könnte, sondern dass der pure Zwang die Sachlage entscheiden würde.
Unter diesen Bedingungen schien mir die bemerkenswerte Ausbereitung des Wegfalls der Kopfbedeckung bei Frauen in der Öffentlichkeit ein heroischer Akt zu sein, ein symbolisches “Nein” gegen die Herrschaft der Islamischen Republik, das sich zunächst in Protestrufen und Texten manifestierte und sich nun in der Gestalt jeder unverschleierten Frau offenbarte.

Ein besonderer Ort in der Stadt, den ich aufsuchte, ist ein Stromschaltkasten in der „Revolutionsstraße“ gegenüber einer Konditorei. Er war vor sechs Jahren Schauplatz einer performativen feministischen Aktion. Eine junge Frau war auf den Kasten gestiegen und hatte ihr Kopftuch abgenommen und es wie eine Fahne an einem Stock hochgehalten. Sie wurde festgenommen aber ihre Aktion fand landesweit viele Nachahmerinnen und markierte einen Wendepunkt in der iranischen Frauenbewegung.
Der Kasten erschien mir schmaler als zuvor. Als ob er durch ein schlankeres Modell ersetzt worden sei, um seine Sichtbarkeit zu verringern. Der Straßenverkäufer neben dem Kasten, den ich danach fragte, sah mich so verdutzt an, dass ich schwieg. Dann zuckte er mit der Schulter und sagte: „Diese Schamlosen“ – ein häufig benutzte Bezeichnung für die Machthaber- „ sind zu allem fähig.“

Drei Tage vor dem fünfundzwanzigsten Jahrestag der Ermordung meiner Eltern veröffentlichte ich zusammen mit meinem Bruder einen Aufruf zur Gedenkversammlung im Haus meiner Eltern auf meiner Facebook-Seite. Ich war besorgt, dass wegen meiner stark eingeschränkten Online-Präsenz der Aufruf viele nicht erreichen würde.
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Zwei Tage vor dem Todestag folgte ich der mir am Flughafen zugestellten Vorladung und ging zum besagten Sicherheitsamt. Die Agenten erschienen pünktlich. Einen kannte ich vom letzten Jahr, der andere schien jünger zu sein.
Nach der harschen Aktion am Flughafen, erwartete ich eine erhöhte Schärfe bei der Befragung. Ich war aber überrascht als der Ablauf sich als eine Wiederholung derselben Fragen, Unterstellungen und Drohungen wie in den vorherigen Jahren herausstellte.
Die Bemerkungen der beiden zur aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation und zur Vorgehensweise des Regimes waren so fern aller Realität, dass es mir schien, sie würden die Erklärung eines Propagandasenders vorlesen. Ich reagierte nicht darauf.

Nach einer Weile legten sie mir ein weißes Blatt vor, damit ich den Ablauf und den Inhalt, inklusive der Parolen bei der Versammlung am Todestag meiner Eltern niederschreibe. Auch meine Formulierungen war eine Wiederholung jener der Jahre zuvor. Neu hinzugekommen war nur die Parole „Frau Leben Freiheit“, die ich seit letztem Jahr als Bestandteil der Versammlung angebe. Schon vor meiner Abreise nach Teheran wusste ich, dass ich zu dieser Parole stehen würde.
Am Ende der Sitzung gaben mir die Agenten meinen Reisepass und meine Mobiltelefone zurück und sagten sogar, dass sie mein Buch und meine Notizhefte, die mir im letzten Jahr abgenommen worden waren zurückgeben würden. Ich müsse sie nur erneut abholen kommen, da sie bei einer anderen Behörde aufbewahrt würden. Ich verbrachte auch den folgenden Tag stundenlang mit der Prozedur der Rückgabe meiner Unterlagen. Zu den Methoden des Sicherheitsapparates gehören nicht nur Schikanen und Angstmache, sondern auch die Hinhaltetaktik, das Aufsaugen der Zeit und der Ressourcen ihrer Gegner.

Obwohl kein offizielles Verbot der Versammlung ausgesprochen worden war, war ich mir nicht sicher, ob am Jahrestag nicht wieder Agenten und die Schlägertrupps in unsere Straße einrücken würden, um den Weg zu belagern, die Besucher aufzuhalten oder sie sogar festzunehmen. Ich war mir nicht sicher, ob sie in das Haus eindringen würden, um alles kurz und klein zu schlagen.
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Am Mittwoch, dem 22. November, früh am Vormittag, begann ich zusammen mit meinen Tanten und einer kleinen Gruppe vertrauter Freunde das Haus für die Versammlung am Nachmittag vorzubereiten. Es wurden überall Blumen und Kerzen aufgestellt, Teegläser breitgestellt, Tafeln mit Gebäck angerichtet. Wie das Jahr zuvor wurden kleine Zettel an die trockenen Äste des Magnolienbaums aufgehängt, die einst meine Mutter gepflanzt hatte, handgeschrieben mit Slogans, die den Anlass der Versammlung widerspiegeln: „Gegen das Vergessen“, „Gerechtigkeit für die Opfer der staatlichen Gewalt“ und – „Frau-Leben-Freiheit“ auf Persisch und auf Kurdisch.
Als ich zur Mittagszeit vor die Haustür ging, sah ich die Gasse entlang, maskierte, bewaffnete Männer. Einige hielten große Kameras in Hand, um später die Besucher aufzunehmen und sie dadurch einzuschüchtern.

„Nicht müde werden,
sondern dem Wunder,
leise, wie einem Vogel,
die Hand hinhalten.“
Hilde Domin

Das Gedicht begleitete mich seit Monaten, schon vor meine Abreise nach Teheran. Ich wiederhole die Verse und versuche mich daran festzuhalten, in einer Zeit der auswuchernden Feindseligkeiten, Extremismus, Rassismus und Kriege, in einer Gegenwart dem die Zuversicht abhandengekommen sei.

Am Nachmittag den 22. November sind hunderte Menschen in dem Haus meiner Eltern zusammengekommen. Menschen, die nicht müde werden in einem Land für Gerechtigkeit und Demokratie zu stehen, in dem ein gewalttätiges, repressives und korruptes Regime herrscht, das sie trotz allem Einsatzes, nicht besiegen können. Das erfüllt mich mit Bewunderung für sie.

Mit diesen Eindrücken reiste ich drei Tage nach der Versammlung wieder ab.